In Chemnitz eskaliert der gesellschaftliche Diskurs und stellt sicher geglaubte Wertvorstellungen zur Disposition.
Die Kolumne zum Nachhören finden Sie hier:
Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31.08.2015
Das waren vielleicht noch Zeiten. Gar nicht mal so lange her. Heute vor genau drei Jahren, da hat die Kanzlerin wie Bob der Baumeister deutlich gemacht, Deutschland schafft es, die nach Europa strömenden Geflüchteten aufzunehmen. Doch der einstige Optimismus und Tatendrang aus dem Kanzleramt scheint im Land der Ernüchterung gewichen zu sein. Dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man sich anschaut, wie viele Menschen in Chemnitz oder Dresden dieser Tage ihren Protest auf die Straße tragen. Warum eigentlich?
Wut und Verärgerung
Die Zahl neu ankommender Geflüchteter ist massiv gesunken. Auch wirtschaftlich scheint es Deutschland gut zu gehen. Immerhin die erste schwarze Null im Bundeshaushalt seit Jahren. Und doch – Wut und Verärgerung in der Bevölkerung entlädt sich da mit aller Gewalt. Klar, es ist nachvollziehbar, dass es große und wichtige Probleme gibt und die Lösungsvorschläge von Seiten der Politik – nun ja – schon mal besser waren. Aber ist das ein Grund, seine gute Kinderstube zu vergessen und auf der Straße alles und jeden niederzubrüllen, der nicht in das eigene Weltbild passt oder die gleiche Meinung hat?
Umgangston wie in der Bronx
Harter Tobak, der da aktuell auf den Straßen Sachsens zu hören ist und eher an den Umgangston in den dunkelsten Ecken der Bronx erinnert. Der Ton macht bekanntlich die Musik. Und wer andere Menschen auf diese Weise anfährt, bepöbelt und auspfeift, der hat einiges nicht verstanden. Denn zur Demokratie und Meinungsfreiheit gehört nicht nur die eigene, sondern stets auch die andere Meinung. Das zu akzeptieren und auch zu respektieren, gebietet der politische Anstand – nicht nur von Mandatsträgern, sondern auch von jenen, die sie wählen.
Fehlendes Mitgefühl?
Apropos Anstand. Vor einigen Tagen wurde uns vorgeworfen, wir würden in unserer Berichterstattung über die Ausschreitungen in Chemnitz nicht genug Mitgefühl für das Opfer zeigen. Auch der Umstand, dass die beiden Tatverdächtigen keine deutschen Staatsbürger seien, würde in unserem Programm nicht ausreichend Erwähnung finden. Wir können und werden aber nicht für jedes Mordopfer eine Gedenksendung veranstalten. Denn immerhin gab es laut Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr über 400 Morde in Deutschland. Außerdem gilt: Mord bleibt Mord – egal wer oder warum er ihn begeht. Daher ist eine solche Tat völlig unabhängig vom Hintergrund des Täters oder Opfers zu verurteilen.
Journalistischer Grundsatz
In unserem Redaktionsstatut haben wir festgelegt, dass wir die Privatsphäre und Menschenwürde achten wollen. Auch hier gebietet es der Anstand, den tragischen Tod eines Menschen nicht zu sensationalisieren oder medial auszuschlachten. Ein Anstand, den ich bei den aufgebrachten Menschen in Chemnitz schmerzlich vermisse.